Identität im Kino

Das Kino macht es dem Zuschauer möglich, einige Zeit lang ein anderes "ich" anzunehmen in der beruhigenden Sicherheit, daß - egal was passiert - der Film irgendwann einmal ein Ende hat. Dieses "ich" kann in eine oder mehrere Filmfiguren auf der Leinwand "eingefüllt" werden. Ein Großteil der Identifikation entsteht in Kino durch den Einsatz von "subjektiven Einstellungen" in welchen der Zuschauer sieht, was die Filmfigur "sieht" und dadurch mit dieser Figur eins wird. Eine solche Montage gestaltet sich üblicherweise wie folgt:

A) Objektive Einstellung: Die Filmfigur schaut an der Kamera vorbei
B) Subjektive Einstellung: Die Kamera zeigt, was die Filmfigur sieht
C) Objektive Einstellung: Die Filmfigur reagiert auf das Gesehene

"Copy Shop" geht einen Schritt weiter, indem die Zuschauer mit einer Figur identifiziert werden, die selbst ihre Identität verliert.

1. Objektiv = Subjektiv

Damit im Kino der Wechsel von objektiver zu subjektiver Einstellung für den Zuschauer zumindest unbewußt nachvollziehbar bleibt, muß eine wichtige Regel eingehalten werden: objektive und subjektive Einstellungen unterscheiden sich dadurch, daß in einer subjektiven Einstellung der Beobachter selbst niemals direkt zu sehen sein darf. Diese Regel wird in "Copy Shop" jedoch bewußt durchbrochen, indem die idente Aufnahme einmal objektive Einstellung und ein andermal subjektive Einstellung ist, d.h. der selbe Blickwinkel von verschiedenen Beobachtern eingenommen werden kann.

Beispiel:

In den ersten zwei Dritteln der Geschichte wird dem Zuschauer Zeit gelassen, dieses Spiel zu durchschauen. Solange der Zuschauer weiß, wer "er" ist, ist dem Zuschauer auch klar, welche der ident aussehenden Filmfiguren der echte Alfred Kager ist. Erst im letzten Drittel beschleunigt sich der Film derart, daß die Identifikationen durcheinander geraten.

2. Das Einzelbild als Kopie des Originals

"Copy Shop" zeigt einen Protagonisten, der als Individuum um seine Originalität kämpft. Im Falle von "Copy Shop" sind jedoch nicht einmal die Kader des Films Originale, sondern nur Kopien. Damit ist nicht nur gemeint, daß es sich bei der Vorführkopie um eine übliche Kinokopie handelt, sondern daß die Filmkader tatsächlich "Kopien" im eigentlichen Wortsinn sind: Die technische Verwirklichung von "Copy Shop" sah vor, daß nach Abschluß der Dreharbeiten jedes Einzelbild vom digitalen Videoband in den Computer übernommen, anschließend auf einem schwarz/weiß Laserdrucker ausgedruckt und dann mit der 35mm Trickfilmkamera wieder abgefilmt wurde. Auf diesem Weg wird Video zu Papier, Papier zu Film und die Geschichte von "Copy Shop" "Kopie" für "Kopie" wieder lebendig.

3. Das Kino als Kopiermaschine

"Copy Shop" handelt von einem Kopierzentrum, d. h. von der Vervielfältigung von Einzelbildern, die in immer schnellerer Abfolge durch technische Geräte (in diesem Fall: Kopiermaschinen) gejagt werden. Das Tempo dieser Vervielfältigung stellt in seinem Rhythmus, der sich im Lauf der Geschichte auf bis zu 24 Bildern pro Sekunde steigern wird, eine akustische und optische Beziehung zu dem artverwandten Vorgang in einem Filmprojektor dar. Kager, der Held von "Copy Shop" kämpft nicht nur gegen seine Doppelgänger, sondern vorallem auch gegen die Bilder, die sie kopieren und damit gegen den Film, in dem er selbst für immer gefangen ist.